Karl Münichreiter Gespräch mit Leopoldine Münichreiter (1970):
Mein Mann, Karl Münichreiter, wurde am 27. September 1891 in Steinachkirchen am Frost (NÖ) geboren. Sein Vater war Bäcker. Er erlernte das Schuhmacherhandwerk, hat den Ersten Weltkrieg mitgemacht, einen Bachsteckschuss abbekommen und war 45 Prozent invalid. Der Sozialdemokratischen Partei gehörte er seit 1918 an, dem Schutzbund trat er nach dem 15. Juli 1927 bei. Vorher hatte er dort nicht mitmachen wollen, er hatte noch vom Weltkrieg her ´vom Soldatenspielen genug`. Am 15. Juli 1927 schloss er sich beim Sammelplatz in der Amalienstraße den Schutzbündlern an, und von nun an gehörte er dazu. Mittelpunkt des politischen Lebens war damals bei uns in Ober St. Veit die Kinderfreundebaracke am Goldmarkplatz. Hier hatte auch die SDAP ihr Heim. Im Sommer war hier ein Tennisplatz, im Winter ein Eislaufplatz. Auf diese Weise bekam man ein wenig Geld herein. Bei den Zusammenkünften der SDAP am Goldmarkplatz kam es bei Versammlungen oft zu heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Gemäßigten und Radikalen. Münichreiter war einer der Wortführer der letzteren und hatte besonders unter den Jungen viele Anhänger. „Du bist ja ein Kommunist“, pflegten seine Gegner ihm vorzuwerfen. Aus der Bibliothek am Goldmarkplatz entlieh er sich Bücher von Marx und andere politische Literatur. Münichreiter hatte damals viel freie Zeit, die Arbeiter hatten in jenen Krisenjahren für den Schuhmacher wenig zu tun, und die Bürgerlichen boykottierten ihn seit dem 15. Juli 1927. Wenn ein Arbeiter doch einmal etwas machen ließ, so blieb er es meist schuldig. Wir wohnten [...] in einer Kellerwohnung in Wien 13., Meytensgasse 18. Zu der Wohnung waren wir 1918 gekommen, es waren unbenutzte Magazinräume, und wir hatten sie auf Grund des Mieterschutzgesetzes durch das Wiener Wohnungsamt anfordern lassen. Der Hausbesitzer war nicht einverstanden gewesen und hatte uns die Schlüssel nicht geben wollen. [...] Am Fuß des Roten Berges hatten wir einen Schrebergarten. Als der Schutzbund verboten wurde, hatten wir dort Waffen versteckt. […] Mehrmals hatten wir Hausdurchsuchungen – zu Hause und im Garten. Einmal kam ein Kriminalbeamter zu uns nach Hause: Hausdurchsuchung – aber nicht hier, sondern im Garten. ´Kommen Sie mit!` Ich bin sehr erschrocken, denn tags zuvor waren dort von den Schutzbündlern Waffen geputzt worden, und die Buchesen uns. Lagen noch herum. Mein Mann nahm seelenruhig den Schlüssel und kam nach einiger Zeit zurück. Er hatte den Schlüssel vom Nachbarn mitgenommen, der sich bei uns befand, da sich der Nachbar öfter Werkzeug von uns borgte, und Karl führte den Kriminalbeamten eben in den Nachbargarten, wo natürlich nichts zu finden war. Wir brachten uns damals mehr schlecht als recht durch. Mein Mann hatte in seinem Beruf wenig zu tun, nahm aber jede Gelegenheitsarbeit. Half einem Gärtner und rodete auch einmal einen Garten in der Firmiangasse. Das Holz gehörte dann uns und als wir dann 1934 abreisten, standen bei unserer Schrebergartenhütte noch einige Holzstapel. Ich wusch fremde Wäsche, ging in Bedienung und ging nachts einen alten, kranken Herrn pflegen. Da bekam ich auch oft etwas zu essen mit nach Hause, für den Mann und die drei Kinder. Anfang Februar 1934 hatte der illegale Schutzbund öfter Zusammenkünfte am Goldmarkplatz, um, wenn nötig, zur Stelle zu sein. Am 12. Februar kam der Vater gegen 11 Uhr nach Hause und ging zum Schalter. Kein Licht: Also Generalstreik! Karl eilte zum Goldmarkplatz. Wer zum Sammelplatz kam, erhielt aus dem Waffenversteck in der Amalienschule oder auch aus unserem Garten ein Gewehr. [...] Nachdem die Waffen geholt worden waren, marschierte die Gruppe wieder zum Goldmarkplatz. Ich war mittags zum nahegelegenen Goldmarkplatz gegangen, um Vater zum Essen zu holen. Da kamen gerade auch die Kinder von der Schule daher. Der Vater sagte zu mir: „Schau, dass du die Buben heimbringst, und bring´ mir das Mittagessen hierher.“ Als ich mit dem Essen zum Goldmarkplatz kam, sagte mein Mann: „Dort kommen Überfallautos, jetzt ist keine Zeit mehr für´s Essen.“, und schickte mich wieder nach Hause. Ich laufe übers Feld und sehe, dass auf der Hietzinger Hauptstraße alle Geschäfte geschlossen sind. Ein Wachmann schickt mich fort: „Schauen Sie, dass Sie heimkommen!“ „Hinein in die Häuser!“, riefen die Polizisten. Ich laufe hinten herum nach Hause und kaum bin ich da, geht die Schießerei los. Ein Teil der Polizei hatte sich auf den Dachböden postiert und schoss durch die Luken herunten. Sie hatten gute Sicht und wurden selbst nicht gesehen. Das Haus am Goldmarkplatz war aber nur ein ebenerdiges Gebäude und von allen Seiten gut einzusehen. Das Heim war eigentlich nur als Abmarschpunkt gedacht; es war vorgesehen, dass der Hietzinger Schutzbundkommandant Plebann kommen und die Leute zum gemeinsamen Sammelplatz nach Lainz führen sollte. Aber er kam nicht, ebensowenig wie irgendein anderer Verantwortlicher der SP. Auf dem Goldmarkplatz kamen insgesamt etwa 30 Männer zusammen, darunter einige 17- bis 18-Jährige, die Ältesten waren 30 bis 40. Und da niemand Verantwortlicher da war, hatte Münichreiter als ältester die Führung übernommen. Zwischen Polizei und Schutzbund wurde das Feuer eröffnet. Da die Polizei in großer Übermacht war, lief ein Teil davon. Die restlichen Schutzbündler lieferten der Polizei ein Gefecht. Wegen der aussichtslosen Situation wurde der Rückzug in Richtung Verbindungsbahn angetreten; dort tauchte aber auch schon Polizei auf und schnitt den Rückzug ab. Die Polizei besetzte das Heim, verhaftete etliche, manche auch auf der Flucht. An unserem Haus wurde ein Trupp von acht Gefangenen, alle mit Stricken gefesselt, vorbeigeführt. „Gott sei Dank, der Vater ist nicht dabei,“ stellte ich mit Erleichterung fest. Mein Mann war aber in Richtung Gärtnerei gelaufen. Dort sah er den Schutzbündler Franz Mück mit einem Kopfschuss liegen und gab ihm einen Notverband. Die Polizei schoss auf ihn und verwundete ihn. Vermutlich erhielt er da die drei Schüsse. Am 13. Februar früh war mein Mann noch nicht zu Hause. Mittags kamen zwei Mann Polizei mit Gewehren. „Sie sollen sofort in die Polizeikaserne Rossauer Lände kommen. Ihrem Mann Kleider bringen.“ Ich fuhr mit den Kleidern in die Rossauer Lände – alles dort war mit Stacheldraht abgesperrt. Mit der polizeilichen Verständigung kam ich durch und gelangte schließlich in ein Vorzimmer, in das viele Türen mündeten. Hinter einer der Türen hörte ich, wie vier oder fünf Mann gefragt wurden: „Wer hat Sie bewaffnet?“ Und alle sagten: „Münichreiter.“ – Sie glauben offenbar, dass mein Mann, da er nicht unter ihnen war, geflüchtet oder tot wäre. - Später, vor dem Standgericht, nahmen mehrere ihre Aussagen bezüglich Karl zurück. Ich fragte einen Beamten: „Wann kann ich meinem Mann das Gewand bringen?“ „Der braucht kein Gewand mehr“, war die Antwort. Einige Männer in blauer Uniform – wohl Feuerwerker oder auch Angehörige der Gemeindewache – wurden vorbeigeführt, in ein Zimmer gestoßen und geschlagen. Man hörte Wimmern und Stöhnen. Schließlich kam ein Beamter und fragte mich: „Was suchen Sie da?“ Und als er hörte, dass ich die Kleider für Karl Münichreiter hatte: „Geben Sie her!“ […] Wie sich dann herausstellte, war mein Mann nach seiner Verwundung ins Rochusspital eingeliefert worden. Als man ihn ins Inquisitenspital [Gefängniskrankenhaus] bringen wollte, weigerte sich der diensthabende Arzt, ihn herzugeben, da Karl schwer verwundet war. Offenbar zwang man ihn dazu. Am 14. Februar wurde eine Hauspartei telefonisch angerufen und ersucht, mich zu verständigen: Ich solle ins Landesgericht II am Hernalser Gürtel. Mein Mann verlangte mich als Zeugin. Ich nahm Lucia, die Zweijährige, mit. Als ich ins Landesgericht II kam, war dort ein alter Mann, der jammerte: „Mein Bub, der Sinawehl, ist unschuldig, den haben sie verführt.“ Es war gerade Verhandlung. Vor dem Saal waren zwei Hahnenschwänzler postiert: „Wer sind Sie? Zeugin oder Frau?“ „Beides.“ „Als Frau dürfen Sie nicht hinein.“ Sie schickten mich zur Einlaufstelle. Dort sagte man mir: „Hätten Sie ihren Mann nicht fortgelassen, dann bräuchten Sie sich jetzt nicht um ihn zu kümmern.“ Sie schickten mich in den 2. Stock. Zum Oberlandesgerichtsrat Kreuzhuber, „der wird Ihnen sagen, was los ist“. Ich wartete und schließlich kam ein dicker, älterer Herr. Ich nannte meinen Namen und fragte was mit meinem Mann ist. Er zog seine Taschenuhr und sagte ungehalten: „Ich hab heute noch nichts gegessen“, und gab mir auf meine Frage keine Antwort. Ich zurück in die Einlaufstelle. Die Verhandlung war schon aus. Viele Zuhörer gingen die Stiegen hinunter. Man schickte mich ins Landesgericht I in die Landesgerichtsstraße […]. Beim LG I blieb ich beim Haupttor stehen. Ich wartete lange. Schließlich erfuhr ich, dass Karl schon da ist. […] Man führte mich zu einem hohen Beamten. „Frau Münichreiter, wir haben bis in die letzte Minute alles versucht wegen einer Begnadigung. Sie ist abgewiesen. Nehmen Sie sich zusammen.“ Ich sagte, dass ich auch ein Gnadengesuch einreichen wolle. „Ist bereits geschehen. Sie können gar nichts machen. Also kommen Sie.“ Man führte mich in einen Vorraum. „Man wird Sie rufen. Nehmen Sie sich zusammen. Machen Sie Ihrem Mann das Herz nicht schwerer als es ohnehin schon ist. Weinen Sie nicht, sonst können Sie ihn nicht sehen.“ Wir kamen in einen kahlen Raum mit einem Kruzifix. Mein Mann saß da, mit dem Rücken an einen Tisch gelehnt. Um ihn standen einige Beamte herum. Er hatte einen Verband von der Schulter bis zur Hand und war ganz ergraut. Der Vater sprach Lucia an, sie aber antwortete nicht. Ich: „Das ist doch der Vater.“ Lucia: „Geh fort, du bist nicht mein Vater.“ Sie erkannte ihn nicht […]. Mein Mann: „Poldi, hast du schon die Zeitung gelesen?“ Ich: „Nein, es gibt ja keine.“ Er: „Da muss ich es dir sagen – ich sterbe keines natürlichen Todes. Ich sterbe, denn einer muss es ja sein, aber das macht mir nichts aus, denn ich wäre ja sowieso ein Krüppel. Doch das Schwerste für mich ist, dass ich dich mit den Kindern zurücklassen muss. Denkst du daran, dass wir bald 16 Jahre verheiratet sind? Ich hab´ das Leben an mir vorüberziehen lassen; es war schön, doch hart – und wenn ich dich in dieser Zeit gekränkt hab, verzeih, denn es war nicht böse gemeint. Erzieh die Kinder in meinem Sinn, du weißt schon, wie ich das meine. Verkauf die Briefmarkensammlung und den Garten nicht, lass es für die Kinder. – Geh zum Quastler (das war der Verwalter für die Unterstützungsgelder für die Angehörigen des Schutzbundes). Geh auch zu Steinitz, wenn du Schwierigkeiten hast (ST. war ein sozialdemokratischer Rechtsanwalt in unserem Bezirk, den wir persönlich kannten). Und geh zur Resi, materiell werden sie dir nicht helfen können, aber sonst werden sie dir zur Seite stehen (Resi war seine Halbschwester und ihr Mann war Bezirksstellenleiter der FLAMME). Ein Pfarrer erschien. Mein Mann wandte sich ab und sagte noch: „Du weißt ja, wie ich über die Sache denke.“ Ein Beamter sagte zu mir: „Sie müssen jetzt gehen.“ Ich war so durcheinander, dass ich alle diese Worte hörte, aber nicht begreifen konnte, um was es da ging. Ich sagte: „Ich fahr jetzt zur Resi und komme morgen wieder.“ Mein Mann resigniert: „Nun gut, komm also morgen.“ Er war sehr gefasst, aber ich begriff noch immer nicht. Zum Abschied wollte er mir noch einen Kuss geben, aber ich genierte mich vor den vielen Leuten. Vom Landesgericht fuhr ich zur Resi. Das Radio verkündete: „Ein Todesurteil vor dem Standgericht.“ Resi wusste schon davon, doch sie fragte mich: „Was ist denn mit dem Karl?“ Ich: „Der ist auch eingesperrt.“ Resis Mann kam gerade nach Hause und brachte die Zeitung mit. Ich wollte hineinschauen, doch er hinderte mich daran. Ich merkte, dass sie abweisend waren und ging. Resi war sonst immer mit mir zur Tramway gegangen – diesmal nicht. Ich fuhr nach Hause. Beim Aussteigen kaufte ich mir eine Extraausgabe der damaligen Boulevardzeitung „Telegraph“. Es wurde ausgerufen: „Ein Todesurteil im Standgericht!“ Ich las die Zeitung erst nicht und eilte zu den Kindern nach Hause. „Euer Vater wird jetzt lange nicht kommen“, sagte ich zu ihnen. Paul, mein Ältester, wusste schon alles, er hatte die Zeitung gelesen: „Mutter, brauchst uns nichts zu sagen, wir wissen alles vom Vater.“ Ich schickte die Kinder schlafen, und dann erst las ich die Zeitung. Da begriff ich erst den Sinn der Worte meines Mannes, und dass ich bei ihm in der Armensünderzelle gewesen war. […] Karl und ich hatten einmal vereinbart, wenn einer von uns stirbt, so wird der andere Teil für die Einäscherung sorgen, […] und nun wollte ich mein Versprechen einlösen. Ich ging, dem Wunsch meines Mannes entsprechend, zu dem sozialdemokratischen Rechtsanwalt Dr. Steinitz, und der schickte seinen Konzipienten mit mir in den Justizpalast. Dort sagte man, Karl sei bereits beerdigt worden. Ich verlangte eine Exhumierung, damit ich ihn einäschern lassen kann. „Das wäre Leichenschändung“, war die Antwort. „Hegen und pflegen Sie das Grab, es ist genau so, als hätten Sie ihn selbst begraben lassen.“ Sie boten mir seine Kleider an – ich nahm sie nicht. Nach ein paar Tagen bekam ich die Kleider ins Haus zugeschickt. Die Unterhose war so rot wie eine rote Fahne. In den Schuhen war eine dicke Blutkruste. Der Jackenärmel war aufgeschlitzt, der Hemdärmel aufgerissen […]. Ich habe alles verbrannt. Nach einigen Tagen kam die Halbschwester meines Mannes zu mir. Sie riet mir, ich solle meinen Namen ändern, damit die Kinder nicht belastet sind. Ich solle mich einfach „Reiter“ oder „Münich“ nennen. „Nein“, antwortete ich, „ich werde mein Leben lang Münichreiter heißen, Münichreiter und nicht anders.“ Ein kleiner Trost war, dass ich bald die Solidarität der Bewegung verspürte. Unterstützungen von der Roten Hilfe, von Betrieben, von den Genossen, aus der Schweiz – alle paar Tage kamen Leute und brachten etwas. An einem Sonntag kamen ein paar Leute von der Roten Hilfe. Sie waren wie Ausflügler angezogen und übergaben mir sechs Schilling – entschuldigten sich, dass sie nicht mehr hatten. Rieten mir, in die Sowjetunion zu fahren. Ich sagte, dass ich erst für die Exhumierung und Einäscherung sorgen müsse. In dieser Zeit kam auch eine sogenannte Notstandsdame. Sie bedeutete mir, dass sie die Patenschaft für uns übernommen habe, wollte genau wissen, von wo und wieviel Unterstützung ich bekomme. Ich sollte jeden Monat ins Schottenstift gehen, dort würde ich 30 Schilling und ein Paket bekommen. Ich lehnte es ab, dort zu betteln. „Wenn die mir was geben wollen, sollen sie es mir bringen.“ Sie war ganz empört und sagte, sie werde es melden. Ich sagte Unterstützung bekäme ich von den Freunden meines Mannes. Auch Frau Dollfuß kam einmal. Es erschien eine vornehme Dame, die sich aber nicht vorstellte. Sie sprach davon, wie traurig die Ereignisse seien und ob sie mir helfen könne. Vielleicht in der Form, dass man uns zur weiteren Existenz unserer Familie ein Milchgeschäft überlassen würde. Da ich merkte, dass sie zu den Schwarzen gehören müsse, war ich nicht zugänglich. Als sie dann gar erwähnte, dass die Teilnehmer am Februar arme, verführte Menschen gewesen seien, komplimentierte ich sie hinaus mit den Worten: „Ich brauche nichts, geben sie mir den Vater meiner Kinder zurück!“ Die Dame verließ mich ziemlich verstört. Vom Hausbesorger erfuhr ich nachträglich, dass dies die Frau des Bundeskanzlers gewesen war, und die Kriminalbeamten sie bis zu meiner Wohnung und beim Verlassen des Hauses begleitet hatten. Am 8. Mai zum Muttertag lud mich die Vaterländische Front zur Muttertagsfeier in der Baracke auf dem Goldmarkplatz ein, die jetzt den Schwarzen zur Verfügung stand. Ich sollte dort „Ehrenmutter“ spielen – man setzte mich gewissermaßen unter Zwang, aber ich ging nicht hin. Auch alle möglichen Neugierigen kamen. Ich schickte alle weg. Den Leuten von der Roten Hilfe hatte ich erzählt, welche Schwierigkeiten ich hatte, um den Leichnam meines Mannes zur Einäscherung herauszubekommen. Da bekam ich eines Tages eine Karte von einem Schneidermeister: „Holen Sie die Hosen ab.“ Ich hatte keine Hosen bestellt. Wir fuhren dennoch hin, es war eine Schneiderwerkstatt. Der Meister sprach ganz geschäftig mit mir. Als die Arbeiterinnen gegangen waren, sagte er: „Mein Sohn will mit Ihnen sprechen.“ Dieser Sohn war illegal. Ich erzählte ihm meinen Leidensweg und dass ich nichts erreicht hätte. Eines Abends kam jemand von der Roten Hilfe zu mir und schickte mich auf den Opernring zu einem Rechtsanwalt. Ich erzählte ihm alles, er notierte es sich, und nach acht Tagen erhielt ich eine Karte von ihm: Es war alles bewilligt. Nach einigen Tagen erhielt ich wieder eine Karte. Ich musste zwei Zeugen nennen, die den exhumierten Leichnam identifizieren sollten. Er meinte, ich würde es nicht aushalten können, den Leichnam zu sehen, es waren immerhin schon einige Wochen verstrichen. Ich nannte zwei Zeugen: Hubert Linner und Heribert Krampf (Genossen und Freunde meines Mannes). Am Vorabend der Exhumierung war jemand von der Polizei da, sagte, ich solle die Zeugen abbestellen. Man wollte Aufsehen vermeiden. Ich erklärte, dass ich nicht imstande sei, um 9 Uhr abends noch die Leute aufzusuchen. Am nächsten Tag um 8 Uhr früh wurde am Zentralfriedhof mit der Exhumierung begonnen. Es standen vier Särge übereinander im offenen Grab. Ich stand abseits und beobachtete die Zeugen, um aus ihrem Benehmen zu ersehen, in welchem der Särge wirklich mein Karl lag. Schon bei der Öffnung des ersten Sarges sahen sie sich an und nickten. In einiger Entfernung standen Neugierige herum. Einige Tage darauf fand die Verbrennung im Krematorium statt. Im Aufbewahrungsraum waren viele Leute, denn die Einäscherung war am Brett, wie üblich, angeschlagen gewesen, und das hatte sich herumgesprochen. Ein Freidenker hielt eine kurze Ansprache und war sofort darauf verschwunden, vermutlich um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Am nächsten Tag wurde die Urne im Grab beigesetzt – nur die engsten Angehörigen und drei Frauen durften daran teilnehmen. Überall beim Krematorium war Polizei, und auf dem langen Weg bis zum Grab stand alle paar Meter ein Wachmann. […] [I]m Krematorium lagen ein paar rote Nelken bei der Urne – das Symbol der Arbeiterbewegung. Ein Polizeioffizier verlangte ihre Entfernung: „Die Blumen müssen weg!“ Ich: „Das sind die Lieblingsblumen meines Mannes und die bleiben.“ Wütend zog er ab. Am Grab wollte Heribert Krampf einige Worte des Gedenkens sprechen, doch man führte ihn ab. Als mein Mann eingeäschert und die Urne beigesetzt war, nahm ich das Angebot der Roten Hilfe an, in die UdSSR zu siedeln. Acht oder zehn Tage lang ging ich täglich auf das Polizeikommissariat, wo ich die Ausstellung eines Reisepasses für mich und die Kinder beantragt hatte […]. So wurde denn beschlossen, dass ich auf andere Weise abreisen sollte. Die Buben wurden eines Tages von einem Genossen abgeholt, der auf seinem Pass zwei Buben ungefähr des gleichen Alters – seine eigenen – eingetragen hatte. In Hütteldorf bestiegen sie den Zug. Ich wurde von einer Frau abgeholt. Abends bestieg ich den Zug – im gleichen Waggon saß, abseits von mir und Lucie, die ich immer bei mir hatte, ein Mann, der mir beigegeben war. Ich bekam einen Grenzübertrittsschein auf einen fremden Namen, ging über die Brücke, auf der ein Strich die Grenze anzeigte, Lucie auf dem Arm, in der anderen Hand ein kleiner Koffer mit unseren Habseligkeiten. Während der österreichische Grenzsoldat den zerknitterten Schein entzifferte, lief ich fort. Als ich über dem Strich war, machte ich einen Hupfer. Man brachte uns nach Zürich zur Roten Hilfe. Zuerst kamen wir zu einer kinderlosen Familie, doch hatte Lucie, die die Trennung vom Vater lange nicht überwinden konnte (ich war meist in Bedienung und die Kleine beim Vater gewesen) solche Schreikrämpfe, dass wir von dort weg mussten […]. Ein Kommunist namens Schrämli, ein Arbeiter, nahm uns auf. Nach 14 Tagen kamen endlich auch die beiden Buben. Ihr Begleiter hatte die Fahrt mit ihnen unterbrechen müssen, denn im selben Wagon war ein Lehrer ihrer Schule gefahren und hatte sie gesehen. So blieben sie 14 Tage in Vorarlberg, bis auch sie über die Grenze kamen. Im August ging es dann nach Frankreich weiter. Ich mit einem Mann als „Liebespaar“, die Buben mit einem, Lucie mit einem anderen fremden Ehepaar. So kamen wir in den französischen Teil von Basel. Über Mühlhausen ging es dann nach Paris, wo uns die Rote Hilfe aufnahm und wir nach etwa drei Monaten sowjetische Papiere bekamen. Es ging dann nach London, wo wir auch bei Privatleuten blieben, und von dort mit dem sowjetischen Dampfer RUDSUTAK nach Leningrad. Nach wenigen Tagen fuhren wir mit dem ROTEN PFEIL nach Moskau und kamen dort in die Ulica Ogarewa zur MOPR, wie die Rote Hilfe in der UdSSR hieß. Jelena Stassowa, die alte Bolschewikin, Leiterin der MOPR in der UdSSR, übernahm die Patenschaft über uns, sorgte für uns und ließ es auch nicht zu, dass wir in die Provinz weiterfahren, wie es von den Behörden vorgesehen war. Wir wurden im Hotel Oktjabrskaja und dann im Hotel Baltschug untergebracht, und schließlich bekamen wir im Schutzbundhaus im Staropimenowski pereulok, das eben fertig wurde, ein Zimmer in einer Dreizimmerwohnung. In den beiden anderen Zimmern wohnte das Ehepaar Brüll und die Familie Rakwetz. Die Kinder kamen ins Schutzbundkinderheim, Lucie später in das Internationale Kinderheim nach Iwanowo. Ich ging zunächst in die erste Uhrenfabrik arbeiten. Ein deutscher Arbeiter, Uhrenmacher aus Thüringen, lernte mich zur Fräsearbeit an. Ich war aber nicht länger als ein halbes Jahr dabei, denn es stellte sich heraus, dass ich Lucie zu mir nehmen musste, die sich nicht eingewöhnen konnte und auch ständig kränkelte. So blieb ich denn zu Hause, umso mehr, als im Sommer 1939 auch das Schutzbundkinderheim aufgelöst wurde und auch die Buben nach Hause kamen. Als Witwe eines Revolutionärs bekam ich eine Pension von 250.- Rbl. Später besuchte uns eines Tages im Auftrag von Stassowa ein Mann. Er erkundigte sich nach unseren Lebensverhältnissen, und ich bekam von der MOPR eine zusätzliche Pension von 4 - 500 Rbl. monatlich. Außerdem hatte ich einen guten Nebenverdienst durch Sticken. In Frankreich hatte man mir geraten, Wolle in die UdSSR mitzunehmen, […] und das hat mir ziemlich geholfen. Als die Kinder dann bei mir waren, bekam ich auch ein größeres Zimmer in einer anderen Wohnung im gleichen Haus mit dem Ehepaar Jorgo und mit Bertl Hütter mit Frau und Kind. Im Jahr 1936 fuhren viele Schutzbündler aus unserem Haus nach Spanien: Pfeifer, Winter, Löschl, Zartl, Rudi Schober, Fritz Ganko, Stanzl; in Spanien fielen dann Zettl und Kafka, Heini Raftl verlor dort bei den Kämpfen einen Arm. Der Schutzbündler Baumgarten brachte sich mit Gas um, vermutlich aus persönlichen Gründen; seine Frau Rosa fuhr dann nach Österreich. 1937/38 kam eine Zeitlang fast jede Nacht der „Grüne Heinrich“. Die gingen zunächst zur Hausverwaltung und erkundigten sich, wo dieser und jener wohnt, dann lauschten wir, in welchen Stock sie ihre Schritte lenkten. Verhaftet wurde Heini Zartl, der Piša-Vater (unser Hausvertrauensmann), Brüll, Weiß und viele andere. Niemand von uns hielt sie für irgendwie schuldig. Außer Weiß ist keiner mehr zurückgekommen. Der Schutzbündler Hlonpy starb vor dem Krieg in Moskau an TBC. Seine Frau war während des Krieges in Tomsk, kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück. Meine Kinder kamen von 1935 an alljährlich im Sommer für zwei Monate durch die MOPR irgendwohin auf Erholung. So fuhren auch Karl und Lucie im Juni 1941 zusammen mit anderen Emigrantenkindern durch die MOPR in ein Erholungslager bei Baranowicze. Ich sah sie erst 1946 wieder. Paul war zu dieser Zeit bereits der Schule entwachsen und in Arbeit. Bald als angelernter Schlosser, bald als Koch u. a. Nach Kriegsbeginn am 1.8.1941, fuhren Paul und ich, mit einem ausschließlich von österreichischen und deutschen Emigranten besetzten Eisenbahnzug in die Evakuation nach Tomsk. Dort wurden wir in einem Studentenheim untergebracht – die Studenten hatten gerade Ferien, nach ihrer Rückkunft wurden sie anderweitig untergebracht. Wie überall in der Sowjetunion herrschte während des Krieges auch hier große Knappheit an Lebensmitteln und sonstigen notwendigen Dingen; doch konnten die Pensionisten unter uns sowie verschiedene verdiente Leute, die Spanienkämpfer u. a., in einem eigenen Geschäft einkaufen und erhielten besondere Lebensmittelzuteilungen. Alle bekamen täglich irgendein Essen – wenn es mitunter auch nur aus einer Suppe bestand. Für alle unsere Angelegenheiten war das Tomsker MOPR-Büro zuständig, durch das die Politemigranten mitunter außerordentliche Zuteilungen – etwa ein wenig Zucker oder Gebäck – bekamen. Wir teilten alle diese Zuteilungen unter allen auf. Mitunter hatten wir mehr Brot als wir benötigten – wir bekamen zum Mittagessen 20 dkg und außerdem 60 dkg täglich – und tauschten dies auf dem Markt gegen Honig, Milch oder Butter ein. Auch die nicht unbedingt nötigen Kleider und Sachen tauschten wir gegen Lebensmittel ein. Ich half mir viel mit Stricken für andere Leute, etwa für Minsker Schauspieler, die in der Stadt waren. Um eine Vorstellung von den damaligen Marktpreisen zu geben: ein Eimer Kartoffeln kostete dort zu dieser Zeit 250 Rubel. In Tomsk wurde der Schutzbündler Karl Spinkuch vom NKWD verhaftet. Pauli ging in Tomsk zuerst arbeiten. Zuerst als Erzieher in ein Heim für schwererziehbare Burschen. Es waren sehr „schwere Burschen“ darunter, ich hatte Angst, dass sie ihn eines Tages umbringen, und er gab die Stelle auf. Er war dann Koch in einer Militärdienststelle, konnte selbst dort essen, und ich konnte mir von dort Essen holen, das ich dann fast immer an die Bedürftigen von uns weitergab. 1942 wurde er zur Armee eingezogen. Bald erhielt ich von ihm einen Brief, dass ihm unterwegs Geld und Dokumente gestohlen worden seien, dass er irgendwo sei, wo er schwer arbeiten müsse und sehr wenig zu essen bekomme. Währenddessen bekam ich seine gestohlenen Personaldokumente (Pass) zugeschickt. Ich schrieb ihm das auch, dass ich ihm den Pass schicken wolle. Indessen wollte er das offenbar nicht abwarten, machte sich mit einem Zweiten auf den Weg nach Tomsk, um sich den Pass zu holen. Dabei kam er in der Eisenbahn mit einer Streife in einen Wortwechsel und wurde erschossen. Sein Begleiter schrieb mir das und schilderte alles, auch, dass Paul ordentlich begraben worden sei. Ich ging mit dem Brief zum MOPR, zeigte ihn dort vor, man nahm ihn mir ab und ich habe darüber nichts mehr in Händen. So war eines meiner Kinder tot, von den beiden anderen wusste ich nichts. In den schweren Zeiten hatte ich oft die Möglichkeit, anderen Emigrantenfamilien und besonders den Kindern zu helfen. Oft kamen Kinder zu mir und baten um ein Stück Brot, und ich gab ihnen, was ich hatte. So war es besonders mit meiner Nachbarfamilie Tibor und Elsa Szanto – sie hatten drei Kinder, und die Frau konnte nicht so stricken wie ich. Im Sommer 1945 bekam ich eines Tages ein Telegramm. Ich bat Elsa Szanto es für mich zu lesen, ich erwartete nichts Gutes mehr von einem Telegramm. „Kinder sind am Leben. Brief folgt“, stand darin. Es dauerte noch bis zum Herbst 1946, bis ich von Moskau die Erlaubnis bekam, dorthin und dann weiter nach Wien zu fahren – ohne besondere Erlaubnis, Dienstreise etc., bekam man keine Bahnkarte damals. Zwei bis drei Wochen hielt ich mich in Moskau auf – in meinem Zimmer waren fremde Leute. Die Einrichtung und meine privaten Sachen waren ins Versatzamt gebracht worden. Im November 1946 flog ich nach Wien zu meinen Kindern Karl und Lucie. (DÖW 6176)
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